EINE FAST UNGLAUBLICHE UND TROTZDEM WAHRE WEIHNACHTSGESCHICHTE

Ich überlege: Was liegt heute an? Tannenbaum ist gestern bereits aufgestellt worden – das Heiligabendessen ist auch bereits vorbereitet – Götz, der nach der 3-monatigen Tabaluga-Tournee mit Peter Maffay die ersten beiden Tage wieder zu Hause ist, ist draußen im Bücherschuppen, um die Inventur zu überprüfen, die zum Jahresende erfolgen muss – sonst ist keiner da. Es ist eine Menge liegengeblieben in den vergangenen 3 Monaten, was nur Götz machen und erledigen kann, z.B. die große 6-Meter-Plane unseres fest im Boden verankerten Sonnenschirms vor dem Frost abzunehmen und von Moosbefall und Schmutz zu befreien.

Hat er übrigens gerade gemacht und hat sie draußen auf der Terrasse saubergemacht. Zu allem Überfluss hat er diese Plane jetzt in unserem Wohnzimmer zum Trocknen ausgebreitet – und dazu kommen noch die schmutzigen Pfotenabdrücke von Nibby, Ricos neuer, lieber Hündin, die natürlich über den nassen Bezug gestakst ist. Mein Gedanke: Gut, dass keiner sieht, was bei uns Heiligabend morgens los ist!

Ich kann für heute nicht mehr viel tun, und eigentlich hätte ich Zeit, noch für eine Stunde in die Badewanne zu gehen, bevor der ganze Rummel am Nachmittag losgeht. Genau, das mache ich auch! Kurze Zeit später aale ich mich im Natronbad und nehme mir einfach Zeit, mein Buch weiterzulesen.

Plötzlich schellt es an der Wohnungstür. Es kann nur ein Fremder sein, denn alle anderen kommen rein ohne zu schellen. Es muss Hermes sein – Rico, der nebenan wohnt, erwartet noch ein Paket von Amazon. Mein Bedürfnis nach Ruhe in der Badewanne steht im starken Widerstreit mit meinem Verantwortungsgefühl. Was ist, wenn niemand öffnet und der Hermes-Bote das Paket, was Rico erwartet, wieder mitnimmt, nur weil ich in der Badewanne liege?

Das Muttertier siegt. Glücklicherweise liegt unser Badezimmer in der 1. Etage genau an der Seite, an der sich unten unsere Haustür befindet. Mit tropfnassen Haaren ziehe ich mich raus aus der Badewanne, öffne das Dachfenster und rufe: „Hallo???“

Eine weibliche Stimme antwortet mir: „Ja?“

„Hier oben bin ich!“ Ich versuche, mein triefendes Haar in den Griff zu bekommen. Und dann sehe ich eine junge Frau, die mir irgendwie bekannt vorkommt, aber ohne Brille kann ich sie nicht gleich einordnen.

Inzwischen ist sie ein paar Schritte zurückgetreten und kann meinen Kopf aus der Dachluke sehen.

Sie lacht mich an – und ihr Gesicht wird mir immer vertrauter. Verflixt noch mal, ich kenne sie! Wie komme ich jetzt bloß aus der Nummer raus? Aber dann lüftet sie Stufe 1 des Geheimnisses: „Ich soll etwas abgeben von meiner Mutter?“

O je, auch das noch! Während mir das Wasser aus meinen Haaren auf die nackte Schulter rinnt, muss ich Farbe bekennen und frage dann etwas vorsichtig: „Wer ist denn Ihre Mutter?“

Stufe 2 des Geheimnisses wird gelüftet: „Aida!“

Oh Gott! Das ist Jessica, die mit ihrer gesamten Familie, Mutter, Vater, Tante, Onkel und ihrem Bruder auf einem meiner Seminare im Oktober im Siegerland war!

„Jessi?“, rufe ich völlig überwältigt. Das kann eigentlich gar nicht sein, denn Jessi und ihre Familie wohnen in der Nähe von Stuttgart. Mein Kopf versucht, in dieser unmöglichen Situation eine Lösung zu finden – Badewanne – nasse Haare – Wohnzimmer sieht aus wie eine Rumpelkammer – und Jessi steht vor der Tür! Sie muss wohl in der Nähe Freunde besucht und mir auf Wunsch ihrer Mutter etwas zu Weihnachten vorbei gebracht haben.

Was mache ich jetzt bloß! Ich kann sie doch nicht – halbnackt und so tropfnass wie ich bin, ins Wohnzimmer bitten, mit dem Risiko, dass sie Heiligabend den Schock ihres Lebens bekommt!

„Schätzelein, Jessi – ich kann im Moment nicht, weil ich in der Badewanne bin. Es geht wirklich nicht! Könntest du Götz das Paket übergeben, er ist hinten im Bücherschuppen?“

„Na klar!“, meint sie.

„Danke, Jessi!“

Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch rutsche ich wieder in meine Wanne, aber das Ganze lässt mir keine Ruhe. Nach kurzer Zeit trockne ich mich ab, föhne meine Haare und gehe zu Götz in das Bücherlager.

„Hier“, sagt er und hält mir eine große rote Schachtel entgegen, auf der eine Kette roter kleiner Herzen angebracht ist. Ich öffne die Schachtel – eine riesige Menge wunderbarer selbstgebackener Weihnachtplätzchen duftet mir entgegen!

„Wer war das denn?“, fragt Götz unbedarft, der das Seminar wegen der Tabaluga-Tour nicht mitmachen konnte und Jessis Familie nur vom Hörensagen kannte.

Ich erzähle ihm von Jessica und ihrer Familie – und mein eigenartiges Gefühl bleibt. Woher kam Jessi – wen hat sie besucht – wo ist sie jetzt wieder hingefahren – wie kann ich sie noch erreichen?

Ich muss Aida anrufen. Hoffentlich erreiche ich sie, vielleicht ist ja ihre ganze Familie hier in der Nähe von Bielefeld auf Weihnachtsurlaub. Und so wähle ich ihre Telefonnummer. Klaus, Jessis Vater, meldet sich. Ich erkläre ihm kurz die Situation, und er schmunzelt: „Ich geb dir mal Aida.“

„Ja, Gila?“, lacht mir eine fröhliche Stimme entgegen, „hast du die Plätzchen bekommen?“

Ich erzähle Aida die ganze Badewannenstory und frage dann zum Schluss: „Hat Jessi hier Freunde besucht in meiner Nähe?“

„Nein“, erwidert Aida, „sie hat eine Reise am Heiligabend unternommen, um dir die Weihnachtsplätzchen zu bringen.“

Stille – mir fehlen die Worte, bis ich mich dann einigermaßen wieder fange und stammele: „Du willst mir sagen, dass Jessi über 500 Kilometer zu mir nach Halle gefahren ist – und den gleichen Weg an einem Tag wieder zurück, um mir deine Weihnachtsplätzchen zu bringen?“

„Ja“, erwidert Aida voller Liebe, „das hat aber eine Vorgeschichte. Ich wollte Plätzchen backen und sie dir per Post als Überraschung schicken, aber ich bin krank geworden und konnte erst gestern Abend backen. Und weil wir alle wussten, dass dich diese Weihnachtsplätzchen nicht mehr rechtzeitig erreichen würden, ist Jessi losgefahren und hat sie dir gebracht! Und noch etwas, liebe Gila, diese Plätzchen sind mit Eiern von eigenen Hühnern und selbstgemachter Marmelade voller Liebe von mir für dich gebacken.“

Und nun setzt das schlechte Gewissen bei mir ein – hätte ich nicht genauso alles stehen und liegen lassen müssen, um dieses junge Mädchen mit ihren 19 Jahren hereinzubitten und ihr etwas anzubieten, egal wie ich aussah – patschnass von oben bis unten – egal wie mein Wohnzimmer aussah mit riesigen ausgebreitetem Sonnenschirm auf der Erde – schmutzige Pfotenabdrücke von Nibby, die über den nassen Schirm durchs gesamte Wohnzimmer gelatscht war?

Da gibt es wirklich eine Familie – mehr als 500 km von mir entfernt – die mich Heiligabend mit duftendem Weihnachtsgebäck überraschen will – deren Tochter Heiligabend 1000 km Autofahrt auf sich nimmt, um mir die Liebe und Dankbarkeit ihrer gesamten Familie zu zeigen.

„Weißt du, Götz“, sage ich etwas später total beeindruckt, aber sehr nachdenklich, „wer macht das schon? Auch ich hätte gesagt: Zweimal 500 km an einem Tag zu fahren? Nicht mal zu wissen, ob man diejenige antrifft? Was für Kosten entstehen dadurch – welcher Zeiteinsatz? Und das nur, um ein paar Weihnachtsplätzchen zu überbringen? Nein, hier hat NUR das Herz gesprochen – mit welcher Liebe müssen diese Plätzchen gebacken worden sein – und die ganze Familie stand hinter der Entscheidung!

Die ganzen Weihnachtstage über ist dieses außergewöhnliche und unglaubliche Geschenk Gesprächsstoff für jeden, der uns besucht.

DANKE – JESSICA – DANKE AIDA – DANKE KLAUS – DANKE JONAS – DANKE OLGA – DANKE WALDEMAR – Ihr habt mir, ohne es zu wollen, eine ganz wichtige Lektion erteilt. Egal wieviel Argumente der Kopf bringt – EIN Argument der Liebe ist wichtiger!

Niemals in meinem ganzen Leben werde ich das vergessen!

Das war für mich ein fast unglaubliches, aber wahres Weihnachtsmärchen am Heiligen Abend 2016!

Ich umarme euch alle voller Liebe und Dankbarkeit!

Eure Gila